Als mein Kind ca. 3 Monate alt war, hat es sich das erste Mal völlig unvermittelt liegend vom Bauch auf den Rücken gedreht und ist dabei sehr unsanft mit dem Kopf auf unseren harten Steinboden geknallt.
Der Schrecken war groß – sowohl bei Klein J als auch bei mir.
Danach hat sich mein Kind lange Zeit nicht mehr zur Seite gedreht. Ja, es schien fast, als ob es Rückschritte in der motorischen Entwicklung macht.
Zeitgleich habe ich (weil der Schrecken noch saß) für einige Zeit darauf geachtet, dass das Kind nicht mehr mit dem Kopf auf den Boden knallt und des Öfteren Gegenstände aus dem Weg geräumt, die seine (Fort-)Bewegung stören könnte.
Heute weiß ich: Das war ein Fehler.
Warum? Darüber möchte ich euch heute ein bisschen etwas erzählen.
Emmi Pikler: Warum freie Bewegungsentwicklung wichtig ist
„Ein Säugling fördert sich selbst von früh bis spät. Ihn zum Sitzen oder stehen aufzurichten ist nicht nur überflüssig, sondern schädlich.“
(Emmi Pikler in ihrem Buch „Lasst mir Zeit“)
1946 bis 1969 beobachtete Emmi Pikler, eine bekannte Kinderärztin, hunderte Säuglinge und Kleinkinder bei ihrer Bewegungsentwicklung.
Sie ließ Fotos und Filme von den Kindern machen und dokumentierte jeden kleinsten Zwischenschritt. Auf diese Weise fand sie heraus, dass alle Kinder dieselben Entwicklungsschritte durchlaufen, allerdings zu unterschiedlichen Zeitpunkten.
So stand ein Junge schon mit acht Monaten auf, während sich ein anderer Junge im selben Alter gerade mal vom Rücken auf den Bauch drehte.
Als die beiden Jungen zwei Jahre alt waren, konnte man jedoch keinen Entwicklungsunterschied mehr zwischen den beiden feststellen. Der — nach heutigen Begriffen — “entwicklungsverzögerte” Junge war in keinerlei Hinsicht auffällig.
Damals leitete Pikler das “Lóczy”, ein Kinderheim für Säuglinge, die langfristige Betreuung benötigten. Aus dieser Erfahrung und ihren jahrelangen Beobachtungen heraus entwickelte sie verschiedene Grundsätze.
Ein Grundsatz ist der der freien Bewegungsentwicklung, welchen sie in ihrem Buch „Lasst mir Zeit“ beschreibt.
Was bedeutet freie Bewegungsentwicklung?
Freie (autonome) Bewegungsentwicklung bedeutet laut Emmi Pikler, dass das Kind bei der motorischen Entwicklung nicht gezielt unterstützt und gefördert wird. Zum Beispiel, indem man es beim Laufen an der Hand hält (=führt), es hinstellt oder hinsetzt, bevor es selbständig sitzen kann.
Gründe für eine autonome, motorische Entwicklung
„Ist es nicht sonderbar, dass er (der Säugling) ständig etwas anderes tun muss, als was ihm behagt. Übt er Bewegungen in Rückenlage, so drehen wir ihn auf den Bauch, bewegt er sich auf dem Bauch, setzen oder stellen wir ihn auf. Steht er, so führen wir ihn bei den Händen, damit er gehen lernt“ (Pikler, 1940)
Dem Kind Zeit zu lassen und es in seiner motorischen Entwicklung nicht zu drängen oder fördern zu wollen, ist wichtig, weil…
- …wir damit die natürliche Schrittreihenfolge der Bewegungsentwicklung nicht durcheinanderbringen
- …die Kinder besser einschätzen können: Was kann ich mir zutrauen? Was kann ich an Neuem ausprobieren, ohne mich in Gefahr zu begeben? Sie nehmen die Positionen ein, in denen sie sich sicher und wohl fühlen. Sie können sich, ihren Körper und ihre Grenzen besser einschätzen, als ein Kind, dem die Bewegung größtenteils abgenommen oder „vorgezeigt“ wurde.
- …sie sich weniger häufig verletzen und mit Höhen/Abständen besser umgehen können. Solche Kinder sind später tendenziell auch besser und geschickter im Sportunterricht.
- …Kinder, denen man Zeit lässt, selbständig wissen, wie sie in ihre Ausgangsposition zurückfinden.
- …wir dem Kind auf diese Weise die Selbstentfaltung ermöglichen. Es wird lernen, dass es Dinge aus sich heraus schaffen kann – und dass es keinen Erwachsenen dafür braucht. Das hat einen Einfluss auf sein Selbstwertgefühl und sein Selbstbewusstsein.
- …wenn wir Kindern die Selbstentfaltung ermöglichen, wir feststellen werden , dass sie oftmals anders rollen, robben, krabbeln, stehen und laufen (lernen), als wir Erwachsenen es von ihnen erwarten.
Sie benutzen zum Beispiel viele kleine Übergangspositionen. Die Kinder kommen zum Sitzen beispielsweise nicht aus der Rückenlage, sondern sie richten sich aus halbsitzenden Positionen zum Sitzen auf oder lassen sich aus dem Knie-Händestütz, der auch zu den Übergangspositionen gehört, in den Fersensitz nieder. - …es ein großer Unterschied ist, ob sich ein Kind selbst eine Aufgabe stellt oder ob der Erwachsene sie ihm vorgibt. Das Kind, das die Aufgabe selbst auswählt, kann sie verwerfen oder so verändern, dass sie zu seinen Bedürfnissen passt.
- „Eine Förderung, welche die vielen notwendigen Übergangsstufen und die wochen- und monatelangen Zwischenräume verkennt, läuft Gefahr, den Säugling in eine Bewegungsunsicherheit zu bringen, die zu muskulären Verspannungen, Haltungsschäden, Fußdeformationen (Laufwagerl) oder ähnlichem führen kann“ (Zitat Montessoriverein Storchennest, Privatschule und Privatkindergarten im Burgenland)
Statistisch betrachtet, brauchen Kinder fast sechs Monate zwischen dem Hochziehen und dem freien Gehen. Das ist für ein Kind eine sehr lange Zeit.
Diese Zahl gilt auch nur für Kinder, die alle Bewegungsschritte selbständig erreichen durften.
Kinder hingegen, die von den Erwachsenen regelmäßig „korrigiert“ und gestützt werden, sind zwar oft schneller in ihrer motorischen Entwicklung. Sie sind aber auch unsicherer, fallen häufiger hin oder stolpern. Sie haben tendenziell weniger gut Kontrolle über ihren Körper, als Kinder, die sich frei entwickeln dürfen.
…Aber mein Kind findet es toll, an der Hand geführt zu werden!“
Kinder freuen sich zum einen, wenn die Eltern begeistert sind. Die Eltern signalisieren dem Kind „das ist toll, was wir da gerade machen“. Zum anderen gewöhnt sich ein Kind schnell daran, Strecken – auch wenn es kurze sind – geführt zu gehen und auf diese Weise schneller voranzukommen. Daher verlangen sie irgendwann auch danach.
Kinder finden zudem einen Perspektivwechsel spannend und finden es schön, etwas Neues auszuprobieren – das heißt aber nicht, dass das auch gesund für ihre Entwicklung ist.
An dieser Stelle möchte ich euch ein Video von Evelyn Podubrin (Erziehungswissenschaftlerin, Expertin für “freie Bewegungsentwicklung” bei Kindern und Dozentin an der Uni Potsdam) verlinken, in welchem sie erklärt, warum man das Kind nicht an der Hand führen sollte (und falls doch geschehen, wie man damit umgehen kann). Der interessante Teil geht bis 3:43.
Wie kann ich eine freie Bewegung in meinem Alltag umsetzen?
Was bedeutet freie Bewegungsentwicklung konkret? Wie kannst du sie im Alltag umsetzen?
- Versuche, das Kind nicht hinzusetzen, bevor es das nicht selbständig kann
- Bitte das Kind auch nicht aus dem Sitzen mit den Händen hochziehen
- Das Kind nicht an der Hand führen (wenn es noch nicht selbst sicher laufen kann und z.B. gerade erst laufen lernt)
- Das Kind auch nicht auf die Beine stellen, bevor es das selbst kann
- Keinen Lauflernwagen kaufen. Beim Laufenlernen geht es in erster Linie darum, dass Kinder lernen, mit Gleichgewicht umzugehen und genau das vermittelt ein Lauflernwagen NICHT. Die Motorik ist mit einem Lauflernwagen sehr eingeschränkt bzw. eindimensional. Damit üben Kinder zwar den Bewegungsablauf, aber nicht das freie Gehen.
Wie sollte die Umgebung für mein Kind gestaltet sein?
- Dem Kind die passende Umgebung bieten:
Anstatt eines weichen, dicken Spielteppichs, das Kind besser auf eine flache Matte legen, wie zum Beispiel diese hier:
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Am besten lest ihr bei Ökotest nach, welche Matten (z.B. Puzzlematten) mit “sehr gut” abgeschlossen haben.
- Das Kind, wann immer möglich, barfuß oder mit Socken spielen lassen (bei unserem Kind, das total verfroren ist, wäre „barfuß“ bei „normalen“ Temperaturen undenkbar)
- Dem Kind wenn möglich bequeme Kleidung anziehen
- Das Kind wo möglich die Wohnung erkunden lassen. Nicht ständig Verbote aussprechen. Besser Gegenstände für einige Zeit hoch- oder wegräumen
- Das Kind auch mal (aus einer kleinen, ungefährlichen Höhe) fallen lassen oder sich anstoßen lassen. Ihr werdet sehen, das Kind hat schnell raus, was es tun muss, um sich nicht nochmal weh zu tun
- Nicht jedes Hindernis aus dem Weg räumen
- Das Kind so oft wie möglich einfach machen lassen, ohne einzugreifen. Kinder brauchen häufig etwas länger wie wir und wir wollen dann ungeduldig eingreifen und sagen “schau mal, das macht man so”. Lass dem Kind aber seine Zeit (Auch ich muss regelmäßig daran erinnern, nicht immer einzugreifen)
- Und vor allem: Das Kind nicht drängen, nötigen, ständig stützen, ziehen, hinsetzen, aufrichten, vor allem wenn es dazu noch nicht bereit ist…
Ich selbst habe in unserer Wohnung übrigens Polster ausgelegt, auf der Klein J unsere Wohnung (zum Beispiel das Sofa) erkunden durfte. Die Polster waren also zum Krabbeln da (nicht zur Stoßminderung).
Seit diesem Zeitpunkt liebt sie das Krabbeln und Klettern und kann ganz großartig mit Höhen und Tiefen umgehen.
Sie ist in all den Monaten übrigens nur ein einziges Mal vom Sofa gefallen – nämlich, als sie hundemüde war und ich einen kurzen Moment nicht hingesehen habe.
Abgesehen davon kann sie sich ganz wunderbar abrollen, wenn sie mal unerwartet von einem anderen Kind umgestoßen wird und sich sicher mit den Füßen rückwärts vom Sofa hangeln.
Als Polster diente uns unter anderem ein ausrangiertes, zusammenklappbares Polster-Bett meiner Eltern, ähnlich diesem hier:
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An dieser Stelle möchte ich euch auch noch Videos der Physiotherapeutin, Pekip-Trainerin und Diplom Pädagogin Beate von Eisenhart empfehlen. Sie haben mir bei Klein J’s motorischer Entwicklung weitergeholfen.
Hier ein Beispiel:
Abschließend möchte ich Anna Turdos (Kinderpsychologin, Tochter der Kinderärztin Dr. Emmi Pikler und Direktorin des Emmi-Pikler-Instituts (Lóczy) in Budapest) zitieren:
[Ein Erwachsener] versteht oft nicht, was heißt es, auf eigenen Füßen zu stehen und das Gleichgewicht zu bewahren, sich selbst zu spüren und die ersten Schritte zu probieren. Es geht um die eigene Wahrnehmung, um die persönliche Verantwortung. Es ist so einfach, so natürlich, und doch so schwierig (…) [unseren Kindern Zeit zu lassen].
Quellen:
https://www.ksta.de/laufen-lernen-bloss-kein-stress-fuer-krabbelkinder-12941952
http://holzspielgeraete.basisgemeinde.de/sites/default/files/ga-pikler-2015.pdf
http://www.kr-nuernberg.de/index.php/autonome-bewegungsentwicklung
http://pikler-hengstenberg.at/pikler-aus-und-weiterbildung/pikler-kleinkindpaedagogik
http://www.storchennest.biz/site/index.php/spielraum/paedagog-ansatz-pikler
https://www.vonguteneltern.de/lauft-das-kind-denn-schon/
https://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/gesundheit/baby-erstes-jahr-9-laufen-lernen100.html
http://www.kinderwaerts.de/emmi-pikler/
https://hebammezauberschoen.de/2015/04/23/recht-auf-freie-bewegungsentwicklung/
Hallo,
alles, was du schreibst finde ich sehr hilfreich und würde ich so auch mit beiden Händen unterschreiben. Bei dem letzten Video, wo die Physiotherapeutin mit J das hoch- und runterklettern übt, finde ich es etwas widdersprüchlich mit dem, was Frau Evelyn Podubrin selbst in einem Artikel empfielt, nämlich den Kindern nicht das “mit dem Kopf nach vorne runterklettern abzutrainieren”. Im Artikel wird auch argumentiert wieso. Aber genau das passiert aber im Video.
Hallo Anna,
vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, meinen Artikel zu kommentieren und deine Sichtweise mit mir zu teilen.
Das wusste ich tatsächlich noch nicht, dass das Absteigen kopfüber ein natürliches Bedürfnis von Kindern ist, das wir nicht unterbinden sollten. Danke für den wertvollen Hinweis. Ich habe gleich dazu auf der Seite von Evelyn Podubrin nachgelesen. Tatsächlich würde ich in diesem Punkt versuchen anders vorzugehen, sollte ich nochmal ein Kind bekommen.
Mir erschien das rückwärts krabbeln damals sicherer, da wir nahezu in der gesamten Wohnung harten Steinboden sowie im Schlafzimmer ein hohes Boxspringbett haben und ich sie nicht immer lückenlos beaufsichtigen konnte (z.B. wenn ich den Haushalt gemacht habe und sie von der Küche aus nicht immer sah).
Wie du siehst, man lernt immer etwas dazu, das macht es ja auch spannend :-D.
Wie bist du denn bei deinem Kind mit diesem Punkt umgegangen (falls du ein Kind hast), wie hast du ihm/ihr das Herunterklettern von Gegenständen bzw. Höhen ermöglicht?
Liebe Grüße und eine gute Zeit dir
Natalie
Hallo, sehr schöner und wichtiger Artikel, ich hab nun eine Frage…
mein Sohn krabbelt schon länger und krabbelt vorwärts vom Bett runter auf eine Matratze, er schafft es gerade so, ist immer kurz vorm Überschlagen,… ich bin mir nun nicht sicher… es heisst ja immer rückwärts, aber wenn er es doch vorwärts schafft… ich greife dann ja damit auch ein… Oder soll ich in diesem Fall ihn immer wieder umdrehen und an das rückwärts, wie allgemein anerkannt, gewöhnen? Danke , alles Liebe Britta
Liebe Britta,
danke dir für deinen Kommentar. Ich freue mich, wenn dir der Artikel weitergeholfen hat.
Und entschuldige meine verspätete Antwort – unsere zweite Tochter ist vor Kurzem zur Welt gekommen, dazu sind wir in der Hochphase des Hausbaus. Daher habe ich uns eine kleine Auszeit gegönnt.
Ich hoffe, ich bin noch nicht zu spät mit meiner Antwort.
Grundsätzlich klingt das gut, was du bzgl. deiner Sohnes schreibst (dass er es gerade so schafft und nur kurz vorm Überschlagen ist).
Wie tief ist denn die Matratze? Und wie hart ist euer Boden?
Wenn er sich überschlägt, landet er dann weich auf der Matratze bzw. fängt er sich gut ab?
Wenn es vom Bett zur Matratze runter nur ein paar Centimeter sind (20–30 cm) und nicht die Gefahr besteht, dass es seitlich vom Bett sehr tief runtergeht, dann würde ich ihn vorwärts runter krabbeln lassen.
Wenn ihr allerdings sehr harten Fußboden, so wie wir (Fließen) und ein Boxspringbett habt, dann würde ich ihm auf dem Bett das rückwärst krabbeln beibringen (“Füße zuerst”). Je nachdem, wie viel Gefahr besteht, dass er sich sehr verletzt oder je nachdem, wie viel Sorge zu hast. Da hast du als Mutter sicherlich das beste Gefühl dafür.
Du kannst ihm dazu erklären, warum er rückwärts runterkrabbeln soll (“Achtung, hoch”).
Auf anderen Gegenständen, auf denen weniger Gefahr besteht, kannst du ihn dann machen lassen und nicht eingreifen. So lernt er beides und du “beschränkst” ihn nicht.
Sich zu überschlagen, muss nicht per se gefährlich sein, wenn er sich gut abfängt bzw. nicht dabei verletzt.
Das Kind auf Gefahren hinzuweisen, ist auch wichtig, finde ich.
Ich wünsche dir weiterhin ganz viel Spaß bei der Begleitung deines Sohnes und alles, alles Liebe für euch zwei!
Liebe Grüße
Deine Natalie